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Helmut Schmidt: Vom Oberleutnant zum Soldatenkanzler?

War Helmut Schmidt – trotz seiner auch damals „großen Klappe“ und seiner schon früh erkennbaren Selbstsicherheit und Selbstbezogenheit – überzeugter „Nazi“, Mitläufer oder nur Karrierist?

Michael Wolffsohns Besprechung von Sabine Pamperriens Buch "Helmut Schmidt und der 'Scheißkrieg'" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16. Dezember 2014. Seite 6, Ressort "Politische Bücher":

Vom Oberleutnant zum Soldatenkanzler?

Helmut Schmidt, das Schicksal der Juden im „Dritten Reich“ und der deutsche Widerstand gegen Hitler

Über dieses Buch ist schon vor dem Erscheinen gestritten worden. Nicht alle Streitenden haben das Buch gelesen. Trotzdem äußern sie in Wort und Schrift festgefügte Meinungen. Für die einen ist dieses Buch der "Beweis" für die einstige "Nazi-Gesinnung" des früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt (Jahrgang 1918). Für die anderen ist die Vorgehensweise der promovierten Journalistin Sabine Pamperrien unprofessionell, skandalös und respektlos. Beides ist falsch. Um es vorwegzunehmen: Schmidt war kein Nazi, und die Autorin hat nach den Regeln der Historikerzunft geforscht, geprüft und geschrieben. Ihre Methode ist ebenso einfach wie überzeugend und angemessen: Sie konzentriert sich auf den jungen Helmut Schmidt der Jahre 1918 bis 1945. Sie konfrontiert Selbstaussagen des Altkanzlers mit bereits bekannten und vor allem bislang unbekannten – von ihr neu ermittelten – Akten und Fakten.

Pamperrien kann lebendig (be)schreiben. In den Abschnitten über Schmidts Herkunft, Kindheit und Familie sind die Leser quasi dabei. Sie erleben seine Eltern und Adoptiv-Großeltern. Auch die menschlich nicht gerade erfreulichen Züge des leiblichen jüdischen Großvaters werden skizziert. Der mütterliche Teil der Familie war erheblich lockerer als der eher düstere des Vaters. Trotz des jüdischen Großvaters und etwaiger Gefährdungen seiner selbst hat das Schicksal der Juden im „Dritten Reich“ den späteren Kanzler kaum berührt. Pamperriens Beweise sind (leider) eindeutig.

Der Geist der Hamburger Lichtwarkschule war bis zur Zeit des Nationalsozialismus liberal und weltoffen. Um so erstaunlicher war Helmuts schneller und freiwilliger Eintritt in die Hitlerjugend (HJ). Doch was sagt die Vorschnelligkeit eines 14 Jahre jungen Knaben über seine spätere Ideologie? Nur das: Er war den Zeitgeist-Einflüssen jenseits von Familie und Schule stark ausgesetzt. Wen überrascht das, zumal der Knabe, wie später der Kanzler, vorne mitmischen und führen wollte. Wie Millionen andere wurde er verführt, doch er führte auch als Wehrmachtssoldat an der Front zumindest selbst offenbar keine Verbrechen aus.

An der Front war Schmidt relativ kurz: Vom 25. August bis Ende 1941 im Osten, vor Leningrad, und dann im Westen vom Januar 1945 bis zu seiner Gefangennahme am 24. April 1945. Im Hinterland wurde er – seiner Begabungen wegen – mehr gebraucht als an der Front. Man kann es brutal formulieren: Weil so begabt und einsatzfreudig, wurde er nicht als "Kanonenfutter" ge- und missbraucht. NS-ideologisch wurde der Offizier Schmidt von seinen Vorgesetzten mehrfach und einhellig gelobt. Das besagt im einen Fall viel und im anderen nichts. Die Vorschriften sahen keine ideologischen Standardbelobigungen vor. Das heißt aber nicht, es hätte in der Wehrmacht keine ideologischen Belobigungen gegeben. Natürlich wollten Vorgesetzte Untergebene, die sie menschlich oder soldatisch schätzten und mochten, nicht ans Messer liefern, sondern fördern. Aber auch hier weichen Selbstdarstellung und nachvollziehbare Fakten, wie so oft, voneinander ab.

Nach dem fehlgeschlagenen Attentat vom 20. Juli 1944 wurde den Widerstandskämpfern gegen Hitler im Volksgerichtshof der Prozess gemacht. Ausgewählte Zivilisten und Soldaten wurden als Beobachter zugelassen – auch Schmidt am 7. September 1944. Die brutalen Brüllorgien des Gerichtspräsidenten Roland Freisler schockierten ihn. Musste oder durfte Schmidt zum Prozess? Er musste, erinnert er sich. Er durfte. So das Urteil der Autorin. Doch wie stets in diesem Buch legt sie die Argumente der einen und anderen Seite vor. Was immer Schmidt im Nationalsozialismus dachte oder machte, seine Bewertung des Widerstands gegen Hitler ist für einen späteren Kanzler der Bundesrepublik erstaunlich: Am 5. Juni 1945 sprach er im Kriegsgefangenenlager vom "Verbrechen der Verschwörer". Im Mai 1946 bemängelte er nur noch, das "nicht mit allerletzter Konzentration gearbeitet worden war". In den Erinnerungen des Staatsmanns liest sich alles bundesdeutsch-staatstragend.

Schmidt und der Widerstand gegen Hitler: das war auch 1975/76 Thema einer öffentlichen Kontroverse zwischen dem damaligen Kanzler und dem CSU-Chef Franz Josef Strauß. Hie Angriff, dort Verteidigung. Die Attacke verpuffte und wurde schnell vergessen. Nicht so der diesbezügliche Rundumschlag von Menachem Begin, Israels Ministerpräsidenten. Im Mai 1981 bezeichnete er Schmidts Anwesenheit im Volksgerichtshof als Beleg für dessen NS-Gesinnung, ja für dessen Mitschuld an den NS-Verbrechen.

Pamperrien stützt sich im Wesentlichen auf Schmidts Wehrmachts-Personalakte und HIAG-Quellen aus dem Militärarchiv des Bundesarchivs. Die HIAG ist die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS. Zu nennen sind auch Dokumente der bis zur NS-Ära fortschrittlichen Lichtwarkschule aus dem Privatarchiv Schmidts sowie dem Hamburger Staatsarchiv und – ebenfalls dort zugänglich – die Personalakte seines Vaters Gustav Schmidt. Außerdem hat die Autorin wichtige Zeitzeugen befragt. Deren Aussagen wurden quellenkritisch gesichtet und gewichtet. Die wichtigsten bisherigen Veröffentlichungen über "Schmidt Schnauze" hat Pamperrien ebenfalls vollständig berücksichtigt. Dabei stellt sich heraus, dass Hartmut Soell, der Heidelberger Historiker und bisher maßstabsetzende Biograph des Altkanzlers, die Wehrmachts-Personalakte zwar gesehen und ausgewertet, jedoch (weshalb?) nicht in seiner Studie berücksichtigt hatte. Soell, von 1980 bis 1994 Bundestagsabgeordneter der SPD, ist zugleich der Einzige, der Schmidts Taschenkalender der kritischen Jahre sowie dessen biographische Skizze aus der Kriegsgefangenschaft einsehen durfte.

Das sind die wesentlichen Schlussfolgerungen Pamperriens: Zwischen den Selbstdarstellungen Schmidts über sein Denken und Handeln in der NS-Zeit einerseits sowie den – jenseits durchaus möglicher Detailkritik, nachvollziehbaren und methodisch leicht nachprüfbaren – Fakten andererseits klafft oft eine erhebliche Lücke. Der vom älteren Schmidt vermittelte Schein glänzt heller als Sein und Dasein des jungen Schmidt in der NS-Zeit. Diese Fakten sind unbestreitbar. Sehr wohl streiten kann man über die Interpretation dieser Fakten. Diverse freundlich-verständnisvolle Auftritte, Reden und bis 1965 belegte Bemerkungen des SPD-Bundespolitikers Schmidt bei und über die HIAG werden die einen frösteln lassen, die anderen werden gelassen bleiben.

War Helmut Schmidt – trotz seiner auch damals "großen Klappe" und seiner schon früh erkennbaren Selbstsicherheit und Selbstbezogenheit – überzeugter "Nazi", Mitläufer oder nur Karrierist? Die jeweilige Antwort ist politisch. Auch Pamperriens Antworten sind politisch. Ihre Analyse ist wissenschaftlich. Viele werden ihrem jeweiligen Urteil nicht zustimmen. Das ändert nichts daran, dass ihre Fakten doch Fakten und keine Pro- oder Contra-Phantasie sind. Wer oder was war Helmut Schmidt? Soldat, ja, "Soldatenkanzler", bilanziert Pamperrien.

Michael Wolffsohn

Sabine Pamperrien: Helmut Schmidt und der "Scheißkrieg". Die Biografie 1918–1945. Piper Verlag, München 2014. 347 S., 19,90 €.