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Kleines Land denkt groß: Israels Antwort auf das Bevölkerungswachstum

In den kommenden zwei Jahrzehnten sollen bis zu 1,5 Millionen Menschen in der Wüste Negev im Süden des Landes sowie in Galiläa im Norden angesiedelt werden.

Israels Antwort auf das Bevölkerungswachstum? Innovation

Tel Aviv wird bald an seiner eigenen Größe scheitern. Zu viele Menschen drängen sich auf zu wenig Wohnraum. Israels Politik packt dieses Problem jetzt an. Die Wüste Negev und Mecklenburg sind mit derselben Idee zu retten.

Von Michael Wolffsohn

Es gibt Alternativen zu überbevölkerten, überteuerten und überlasteten Ballungsräumen. Es gibt auch Alternativen zur Entvölkerung ganzer Landstriche. Ebenso gibt es Alternativen für das Doppelproblem von Staaten mit gleichzeitiger und räumlich getrennter Über- und Unterzahl von Bewohnern. Man denke hier einerseits an Großstädte wie München, Berlin oder Tel Aviv, wo Wohnungsnot und andere Probleme herrschen, oder andererseits an ländliche Räume mit den Sorgen von Entvölkerung oder gar Leere wie zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern, Israels Wüste Negev oder Galiläa.

Alternativen zu Überbevölkerung hier und menschenleeren Landstrichen da gibt es aber nur, wenn man Politik, Wirtschaft und Gesellschaft über den Tag hinaus, vorausschauend und vernetzt denkend steuert. Heutzutage hegt man national und global Zweifel an den Steuerungsfähigkeiten des Steuerungspersonals. Manchmal verzweifelt man. Nicht zuletzt, wenn man an die Defizite vorausschauender Raumordnungspolitik denkt. Nicht nur in Deutschland. Weltweit beispielsetzend überwinden könnte Probleme dieser Art das jetzt eingeleitete Infrastrukturprojekt "Israel 2040: Land von Morgen". Initiator ist der Jüdische Nationalfonds – Keren Kayemet LeIsrael (JNF-KKL), Israels größte und älteste Nichtregierungsorganisation (NGO) in den Bereichen Umwelt, Bildung und Infrastruktur.

Ausgangspunkt von "Israel 2040" ist die Tatsache, dass der Großraum Tel Aviv an seiner jetzigen Größe und weltweiten Attraktivität langfristig zu scheitern droht. Die Verbesserung der Infrastruktur sowie die Zahl neuer, bezahlbarer Wohnungen hinken dem demografischen Wachstum hinterher. Die Nachfrage übersteigt in fast jedem Bereich städtischen Lebens das Angebot bei Weitem. Preisexplosionen und räumliche Enge zählen zu den unvermeidlichen Folgen. Ihrerseits bewirken sie zusätzliche Infrastrukturdefizite, weitere Preissteigerungen und schließlich einen Kollaps.

Mit "Israel 2040" kommt aus dem kleinen Land ein großer Wurf, der konzeptionell weltweite Wirkung entfalten könnte und sollte. In den kommenden zwei Jahrzehnten sollen bis zu 1,5 Millionen Menschen in der Wüste Negev im Süden des Landes sowie in Galiläa im Norden angesiedelt werden. Geplant sind grüne Gemeinden mit hoher Lebensqualität, die Ansiedlung von Hightech-Unternehmen, die Hunderttausenden gut bezahlte Arbeitsplätze bieten, hochklassige Forschungs- und Bildungseinrichtungen sowie eine moderne Infrastruktur. So wird einerseits die überbevölkerte und überteuerte Metropolregion Tel Aviv entlastet sowie entzerrt, andererseits zwei wenig entwickelte Regionen mit niedriger Industrialisierung und relativer Armut aufgewertet.

Bereits in den vergangenen Jahrzehnten setzte das eigentlich wasserarme und wohl gerade deshalb wassertechnologische und wasserwirtschaftliche Höchstleistungen vollbringende Israel globale Maßstäbe. Es machte bereits Teile der Wüste urbar und baute eine der stärksten Hightech-Industrien unserer Welt auf. Es ist keine Übertreibung, wenn man feststellt: "Israel 2040" entwickelt diese im 20. Jahrhundert erfolgreiche Konzeption in eine Vision für das 21. Jahrhundert weiter.

Israels Ruf als "Start-up-Nation" wird bisher vor allem durch das wirtschaftliche "Kraftwerk" Tel Aviv geprägt. In dieser Metropolregion sind bislang die meisten Hightech-Unternehmen des Landes und die Mehrzahl der hochqualifizierten Arbeitskräfte angesiedelt. Fast 90 Prozent der Investitionen für Wirtschaft und Forschung fließen in diesen Landesteil. Das Projekt "Israel 2040" verfolgt das Ziel, eine vergleichbare wirtschaftliche Prosperität und Lebensqualität auch in die Negev-Wüste und nach Galiläa zu bringen.

Der Plan ist auch eine Antwort auf das erwartete deutliche Bevölkerungswachstum. Experten rechnen damit, dass die Einwohnerschaft Israels von heute neun Millionen auf 13 Millionen im Jahr 2040 anwächst. Für dieses Mehr an Bewohnern sowie die mehrfach überlastete jetzige Bevölkerung Israels werden im "Land von Morgen" Hunderttausende Wohnungen und Arbeitsplätze entstehen, dazu Bildungs- und Studienmöglichkeiten, attraktive Freiflächen und Erholungsareale sowie die erforderliche Infrastruktur etwa für Energie, Wasser, Verkehr und Kommunikation.

Konkret ist geplant, rund 500.000 Israelis in Galiläa und eine Million Israelis in der Wüste Negev heimisch werden zu lassen. In neu entstehenden industriellen Zentren dieser beiden Regionen sollen 750 Start-up-Unternehmen, 25 Standorte für Forschung und Entwicklung und 150 Wachstumsfirmen aus dem In- und Ausland angesiedelt werden. Diese sollen insgesamt 180.000 hochqualifizierte Mitarbeiter beschäftigen. Auch das sind realistische Annahmen, denn bereits seit Jahren strömen große und kleine Unternehmen aus aller Welt (auch aus Deutschland) in das Land am östlichen Mittelmeer. Sie wollen von Israels Wissen und Wirken in der Cyber- und IT-Welt profitieren.

Rund um die neuen industriellen und wissenschaftlichen Zentren sollen 300.000 weitere Arbeitsplätze entstehen, zum Beispiel in Schulen, Krankenhäusern, Servicebetrieben und im Einzelhandel. Insgesamt sind rund eine halbe Million neuer Jobs angepeilt.

Das Jahrhundertprojekt "Israel 2040" befindet sich derzeit in der Planungsphase. Finanziert werden soll es durch Spenden, staatliche Zuschüsse und private Investitionen. Die Spenden will JNF-KKL in einer weltweiten Fundraising-Kampagne einwerben. Die Initiatoren sichern jedem Spender zu, dass sein finanzieller Beitrag in jeweils gleicher Höhe durch JNF-KKL, beteiligte staatliche Stellen oder private Investitionen aufgestockt wird. Ein großer Entwurf aus einem kleinen Land, das sich anschickt, auch hier Maßstäbe zu setzen.

Die Welt vom 28. August 2020, Seite 2, Ressort Forum

Link zum Projekt auf der Webseite des Jüdischen Nationalfonds e.V.