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Vom Elend deutscher Erinnerungskultur

Deutsches Gedenken im Heute richtet sich an die deutsche Gesellschaft von gestern und vorgestern. Das müssen wir korrigieren.

Beitrag von Michael Wolffsohn in der Welt am Sonntag vom 28. November 2021:

Eigentlich ist es ein Unwort: Erinnerungskultur. Das Urwort "Gedenken" passt besser. Wer der sechs Millionen ermordeten Juden und der 57 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges gedenkt, macht sich Gedanken, die durch Gefühle tiefer Betroffenheit ergänzt werden. Vor dem inneren Auge erscheint der Leichen-Berg der NS-Vernichtungshöllen. Dagegen erhebt der Begriff "Kultur" im Wort "Erinnerungskultur" das Höllische ins himmlisch Geistige. Der von Auschwitz ausgehende Leichengeruch wird parfümiert.

Die Grundannahme bundesdeutschen Gedenkens ist total falsch. Sie unterstellt, dass alle heutigen Deutschen direkte Nachfahren der NS-Zeit-Deutschen wären. Doch im Jahr 2020 hatten 21,9 Millionen der insgesamt 81,9 Millionen Einwohner in Deutschland einen Migrationshintergrund. Wer sich beim deutschen Gedenken vom Gedanken der intergenerationellen Kontinuität aller in Deutschland Lebenden leiten lässt, denkt, redet oder schreibt kontrafaktisch an einem großen Teil der Deutschen vorbei: den Deutschen mit Migrationshintergrund. Heute stellen sie ein Viertel der Bürger, morgen mehr und übermorgen viel mehr.

Holocaust: „Geht mich nix an“?

Das gedankliche und gefühlte Zusammenwachsen der Menschen in Deutschland wird so dramatisch erschwert. Was nämlich geht einen jüngst aus dem Irak, Iran, "Palästina", Ägypten oder Syrien zugewanderten Neudeutschen Auschwitz im Besonderen und das sechsmillionenfache Judenmorden allgemein an? Scheinbar gar nichts –  wenn man es, wie bisher vom Bundespräsidenten abwärts, weiter auf unrealistischen Annahmen basierend, zelebriert. Deutsches Gedenken im Heute richtet sich an die deutsche Gesellschaft von gestern und vorgestern. Das wiederum bedeutet, dass sich morgen noch mehr Deutsche vom Holocaust-Gedenken abwendend sagen: "Geht mich nix an."

Aber es geht Neudeutsche aus der islamischen Welt, genauer: aus Ägypten, "Palästina", dem Irak, Syrien und dem Iran sehr wohl etwas an. Die dort Nachgeborenen stehen –  persönlich als absolut Unschuldige –  ebenso wie die nachgeborenen Altdeutschen in der Kontinuität ihrer Vorfahren. Dabei muss künftig alt- und neudeutsches Gedenken zusammengeführt werden.

Die ägyptischen Offiziere, die König Faruk 1952 stürzten und 1956 mit politischer Nachhilfe der USA die Briten aus ihrem Land vertrieben, hatten Anfang der 1940er-Jahre gezielt die Zusammenarbeit mit Hitler-Deutschland gesucht. Der Sieg der Briten gegen "Wüstenfuchs" Rommel und seine Soldaten bei al-Alamein im Herbst 1942 vereitelte diese Hoffnung. Man kann sich mühelos ausmalen, welches Schicksal die Juden Palästinas erwartet hätte, wäre aus jener Hoffnung Wirklichkeit geworden. Nach 1945 fanden alte NS-Kämpfer in Ägypten Unterschlupf. Ehemalige NS-Raketenbauer entwickelten dort neue Raketen, die gegen Israel eingesetzt werden sollten. Gemeinsame deutsch-israelische Bemühungen, diplomatische wie gewaltbegleitete, bereiteten dem ägyptisch-NS-deutschen Raketenspuk Mitte der 1960er-Jahre ein Ende.

Großmufti von Jerusalem mobilisierte Muslime für die SS

Der Führer der damaligen palästinensischen Nationalbewegung, der Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, bekam 1936 bis 1939 beim antibritischen und antizionistischen Aufstand in seiner Heimat nicht nur von den NS-filtrierten deutschen Templern Unterstützung, sondern auch aus Hitlers Deutschland. Gleiches gilt für seinen 1941 unternommenen Versuch, gemeinsam mit irakischen Nationalisten die Briten aus dem strategisch so wichtigen Mesopotamien zu vertreiben. Der Versuch scheiterte, und über den Irak konnte die Sowjetunion mit westlichem Waffennachschub im Krieg gegen Hitler-Deutschland versorgt werden. Der Großmufti floh nach Deutschland, wurde von Hitler empfangen und mobilisierte als Holocaust-Gehilfe auf dem Balkan Muslime für die SS. Nach 1945 fanden viele alte NS-Kämpfer auch in Syrien Unterschlupf und einen ruhigen Lebensabend. Einer von ihnen Alois Brunner, einer der engsten Mitmörder von Adolf Eichmann.

Nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941 herrschte im Iran ein NS-freundlicher Schah. Die britisch-sowjetische Invasion im Spätsommer führte zu seiner Absetzung. Als Nachfolger wurde sein Sohn Mohammed Resa Pahlewi von den Siegern inthronisiert. Nun erst war der Waffennachschub vom Irak über den Iran in die Sowjetunion und damit langfristig der Sieg über NS-Deutschland gesichert. Eben jener seit jeher unpopuläre Sohn wurde als Schah im Februar 1979 von Revolutionsführer Khomeini und den iranischen Massen gestürzt und vertrieben. Das wirkt sich bis heute auf die deutsch-iranischen Beziehungen und, ja, auf die Stellung des Iran in der Welt aus. Das alles sind Themen für alt- und neudeutsches Gedenken.

Die willigen Gesellen des deutschen Mordmeisters

Auch jenseits der islamischen Welt ist deutsches Holocaust-Gedenken zu germanozentrisch. Der Tod war "ein Meister aus Deutschland", aber der deutsche Mordmeister hatte viele willige Gesellen. Nicht Widerstand war die
Regel während der NS-deutschen Besatzung, sondern Kollaboration. In Frankreich war Jacques Chirac 1995 der erste französische Präsident, der dieses heikle Thema an- und aussprach. In Spanien wird seit 1975 die Kooperation Franco –  Hitler längst thematisiert. In Polen ringt die gegenwärtige Regierung diejenigen nieder, die Fakten darüber vorlegen, wie sich Polen am Judenraub und -morden beteiligten. In Italien schwärmt man immer noch eher von der Resistenza und schweigt über Kollaboration. Die Niederlande sonnen sich in der Menschlichkeit des Ehepaares Gies, das Anne Franks Familie versteckte. Die vielen Denunzianten, die Juden ans Messer lieferten, werden beschwiegen. Die Schriftsteller Maarten t'Hart und Harry Mulisch, die ihr Werk diesem Thema widmeten, sind eher die Ausnahme. In Griechenland fordert man lieber von Deutschland Reparationen, als sich der Tatsache zu stellen, dass es nach der Befreiung von der deutschen Besatzung so gut wie keine Rückgabe geraubten jüdischen Eigentums gab.

Gemeinsame Aufgabe der Nachfahren von Tätern und Opfern

Die Nachfahren der Täter sind keine Täter, und die Nachfahren der Opfer sind keine Opfer. Wenn beide "europäische Werte", also Menschlichkeit als Lebensbasis, wollen, haben sie eine gemeinsame Aufgabe. Wer Europa will und von "europäischen Werten" spricht, muss sich gemeinsam den Zeiten und Menschen widmen, die gegen diese europäischen Werte verstießen. Wer dieser Maxime folgt, relativiert nichts und niemanden, sondern macht sich im Gedenken an das entsetzliche europäische Gestern Gedanken über das heute so viel bessere und morgen hoffentlich noch bessere Europa.

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(Die Zwischenüberschriften stammen von der Redaktion dieser Webseite.)