mw logo1

Holocaust droht vergessen zu werden

Michael Wolffsohn warnt vor einen linken und islamischen Antisemitismus hierzulande.

Interview der Rheinischen Post, Düsseldorf, vom 22. Januar 2020:

Bald wird es keine Zeitzeugen des Holocaust mehr geben. Wie lässt sich das Erinnern wachhalten?

Wolffsohn: Dazu die Gegenfrage: Es gibt keinen einzigen Zeitzeugen mehr. Doch wie konnte die Menschheit die Erinnerung an den Peleponnesischen Krieg der Jahre 431 bis 401 vor Christus oder die mittelalterlichen Kreuzzüge wachhalten? Die Antwort ist klar: Durch geschichtliche Überlieferung, vor allem durch die Geschichtswissenschaft. Bezogen auf das sechsmillionenfache Judenmorden haben wir so viel Material, dass wir erst recht nicht auf Zeitzeugen angewiesen sind, um die Erinnerung wachzuhalten.

Sind Fotos von Überlebenden, wie in Essen, ein guter Zugang?

Solche Bilder schaden nicht, aber was sagen sie aus? Dass diese Menschen überlebten. Faktisch sind sechs Millionen Juden ermordet worden. Das ist die niederschmetternde Hauptbotschaft.

Wie groß ist die Gefahr, dass mit zunehmenden Zeitabstand der Antisemitismus wächst?

Ihre Frage beinhaltet unausgesprochen die These, dass der heutige Antisemitismus allein von den alten und neuen Nazis komme. Den gibt es zweifellos. Aber ebenso zu nennen ist der linke und der muslimische Antisemitismus. Letzterer hat zwei Quellen: die religiöse Tradition des Islam seit Anbeginn und den Konflikt mit dem Jüdischen Staat, Israel. Zu nennen ist auch die parteien- und herkunftsübergreifende Israelkritik, die oft an die Existenz Israels geht.

Brauchen wir in digitalen Zeiten neue Formen des Erinnerns?

Auf die Inhalte kommt es an. Unsere Erinnerungskultur gibt zum Beispiel vor, dass Muslime mit Hitler, Nazis und deren Judenmorden nichts zu tun gehabt hätten. Deshalb schalten sie verständlicherweise bei diesen Themen ab. Die Zahl deutscher Muslime steigt. Wenn sich bisherige Erinnerungsweisen fortsetzen, wird der Holocaust irgendwann vergessen sein.

Lothar Schröder führte das Interview.

Abonnenten der Rheinischen Post können es auch hier lesen