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Wer Juden vertreibt, schadet sich selbst

Michael Wolffsohn über die Hohenzollern, alten und neuen Antisemitismus und den Tod.

Interview mit der Berliner Zeitung vom 17. März 2020:

Tacheles ist eines der zahlreichen jiddischen Worte, die Eingang in die deutsche Sprache gefunden haben. Man könnte es mit Klartext übersetzen. Tacheles zu reden, zu schreiben, darum geht es dem Historiker und Publizisten Michael Wolffsohn in seinem gleichnamigen Buch, worin er in Form von Essays viele unterschiedliche Themen behandelt. Eigentlich hatte er es diese Woche im Jüdischen Museum vorstellen wollen, das nun aber geschlossen ist.

Herr Wolffsohn, Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch mit vielerlei Themen, etwa dem christlichen Abendland, dem Berliner Holocaust-Mahnmal, mit Willy Brandt. Gibt es etwas, das all diese Themen verbindet?

Ja, Vielfalt und Zusammenhänge. Das Thema Abendland führt zu den faktischen und fiktionalen Grundlagen, zur Fundamentalethik unserer Kultur und Gesellschaft. Gilt das nicht, im antithetischen Sinne, für die ethische Überwindung der Holocaust-Vernichtungsideologie? Und hat Willy Brandts Kniefall nicht auch damit zu tun? Und seine Ostpolitik als Antithese der NS-Contra-Ethik? Unsere Fundamentalethik beginnt bekanntlich nicht mit Willy Brandt oder dem Holocaust-Mahnmal. Mehr Universalgeschichte tut also not, um zu verstehen, wer, wie und warum wir wurden, wie wir sind. Als ich ein nichtlinker 68er war, kursierte das Schimpfwort "Fachidiot". Spätestens damals hatte ich mir vorgenommen: Das wirst du nicht. Deshalb beschäftige ich mich seit jeher gleichzeitig mit vielen Themen und Epochen. Nur dann nämlich besteht die Möglichkeit, Zusammenhänge zu erkennen.

Den Hohenzollern widmen Sie ein langes Kapitel. Ihre Restitutionsforderungen nennen Sie folgerichtig. "Raub ist Raub" heißt es bei Ihnen. Was meinen Sie damit?

Ich denke, das ist eindeutig. Strittig ist das Hohenzollerneigentum, das in der SBZ, also der Sowjetischen Besatzungszone, dann DDR, geraubt wurde. In der Alt-Bundesrepublik hatte man das Thema gelöst. Keiner kam auf die Idee, wegen des Nazi-Sohnes von Wilhelm II. der Hohenzollern-Großfamilie – sozusagen im Sinne einer Sippenhaftung – Eigentum zu entwenden oder einzubehalten. Wir wissen, dass 1990, bei der Wiedervereinigung unserer Exekutive, Legislative und Judikative der Mut
fehlte, das in der SBZ/DDR den sogenannten Junkern und erst recht den Hohenzollern Geraubte zurückzugeben. Dafür wurde die Behauptung erfunden, Gorbatschow hätte die Nicht-Rückgabe zur Bedingung der Wiedervereinigung gemacht. Das ist ein Märchen. Gesetzlich abgesichert wurde es 1994. Faktisch werden dadurch alle Hohenzollern für Wilhelm II. in eine Art Sippenhaft genommen. Rechtsstaatlich ist das nicht akzeptabel.

Spricht nicht die Anbiederung des Sohns Wilhelms II. an die Nationalsozialisten gegen die Restitution?

Wie gesagt, wer ja zum Prinzip der Sippenhaft sagt, muss für diesen Bruch des rechtsstaatlichen Grundsatzes eintreten. Dass unsere rechtsetzende Gewalt 1994 ein im Prinzip widerrechtliches Gesetz verabschiedet hat, ist Rechtsbruch. Schuld ist, ebenso wie Strafe, individuell, nicht kollektiv.

Die Vergabe von Vornamen birgt Ihrer Meinung nach Erkenntnis. Zum Beispiel haben jüdische Familien seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bis 1930 ihre Söhne häufig Siegfried genannt. Der am häufigsten in Berlin vergebene Vorname im Jahr 2019 war Mohammed. Was leiten Sie daraus ab?

Mögliche Konflikte zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen leite ich daraus ab. Nicht nur in Deutschland, in ganz Westeuropa. Die deutschen und westeuropäischen, später auch die meisten osteuropäischen Juden waren damals assimilationswillig und assimilationsfähig. Das drückte sich auch in Namen aus. Es hat ihnen nichts genutzt. Der Antisemitismus wurde immer heftiger, der Tod wurde ab 1939 "ein Meister aus Deutschland" und fand während des Weltkrieges im von Deutschland besetzten Ausland willige Helfer. Wenn also die Mehrheit der Nichtjuden das Neben- und Miteinander mit den anpassungswilligen Juden nicht wollte, wie soll, wie kann es gegenüber teilweise weniger anpassungswilligen Muslimen gelingen?

Ihr Satz, der Antisemitismus gehe die Juden nichts mehr an, hat mich überrascht. Können Sie diesen erklären?

Ganz einfach: Wir Juden sind seit 1948, seitdem es Israel gibt, nicht mehr von der Gnade der Nichtjuden abhängig. Welthistorisch waren und sind Juden loyale Staatsbürger, die ihrem jeweiligen Staat Wissen, Einsatz sowie ideelle und materielle Erträge erbringen. Wer Juden vertreibt, schadet sich selbst. Ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn ich sage, dass auch in Israel die Lebensqualität bemerkenswert ist.

Im Zusammenhang mit dem Thema Antisemitismus nennen Sie den Glaubenssatz "Gegen das Vergessen" kontraproduktiv. Sollte man auf ihn verzichten?

Auf jede Phrase sollte man verzichten, denn Phrasen sagen schon an sich nichts. Ständig gebraucht, sagen sie gar nichts, sondern stoßen ab. Nicht vergessen – das kann doch nur der Ausgangspunkt sein und nicht das Ziel. Das Ziel heißt: Aus dem, was war und nicht vergessen werden soll, ziehen wir die praktischen Lehren im Hier und Heute. Und im Hier und Heute gibt es immer neue Herausforderungen. Unser Bundespräsident ist ehrlich gegen das Vergessen der Judenvernichtung. Er vergisst dabei aber, dass zum Beispiel der Iran, den auch er hofiert, den Jüdischen Staat, Israel, vernichten und dafür Atombomben bauen will. Ist das nicht widersprüchlich? Wird da Ethik nicht zur Phrase?

Es leben heute mehr Juden in der Diaspora als in Israel, die meisten leben säkular. Was sind diese Juden ohne Judentum?

Sie sind Juden. Entweder weil sie auch ohne religiöse Inhalte ein jüdisches Gemeinschaftsgefühl haben und vor allem wissen: Unter Juden werde ich nicht als Jude hofiert oder diskriminiert oder gar liquidiert. Judenfeinde hassen Juden. Egal, ob sie religiös sind oder nicht. Oder haben die NS-Mörder da unterschieden? Oder unterscheiden Islamisten zwischen religiösen und säkularen Juden?

Ist das Leben in der Diaspora nicht wieder stark von Ängsten bestimmt?

Ja, das ist es. Doch anders als vom amtlichen Deutschland behauptet, gelten die jüdischen Ängste nicht nur dem Rechtsextremismus, sondern auch dem Links- und Islamextremismus. Letztere bilden eine Allianz, die in Frankreich zutreffend "Islamogauchisme" genannt wird, also eine Allianz von Islamisten und extremistischen Linken. Der Antisemitismus-Virus ist wesentlich älter als Corona. Gegen Corona gibt es bald einen Impfstoff. Und weil gegen Antisemitismus kein Kraut oder Impfstoff gewachsen ist, bleibt Israel die Lebensversicherung der Juden.

Zuletzt beschäftigen Sie sich mit dem Tod. Fürchtet der Gläubige ihn weniger?

Oh ja. Im Bild gesprochen: Der Gläubige fällt in beziehungsweise zu Gott. Das ist die Selbst- und Nachwelt-Sicht gläubiger Menschen.

Was hilft denen, die nicht glauben?

Die Vermutung, dass es "nachher" sein wird wie "vorher". Vor der eigenen Geburt nichts gespürt, nach dem Tod nichts zu spüren. Doch wer weiß es? Weder der Gläubige noch der Nicht-Gläubige. So oder so ist Demut angebracht. Nicht zuletzt In Corona-Zeiten, in denen ein winziger Virus die hochtechnologisierte Menschheit in Atem hält. Ist da die Hoffnung auf Gott nicht vorzuziehen?

Das Gespräch führte Susanne Lenz.

Berliner Zeitung, 17. März 2020, Seite 18, Feuilleton. Zum Interview geht es hier