Dann habe ich meinen Enkeln gesagt: Ich schreib’s für Euch
Michael Wolffsohn im Gespräch mit dem Radiosender RBB Kultur über die Entstehung seines Kinder- und Jugendbuchs Wir waren Glückskinder – trotz allem.
Moderatorin Carolin Pirich: Die Eltern und Großeltern des Historikers Michael Wolffsohn sind dem Holocaust entkommen und nach Palästina geflohen. Vor vier Jahren hat Michael Wolffsohn ein Buch veröffentlicht: „Deutschjüdische Glückskinder“. Und jetzt hat er ein Buch für seine und für alle Enkel seiner Generation geschrieben: „Wir waren Glückskinder - trotz allem“ heißt es, eine deutschjüdische Familiengeschichte. Es ist eine Familiengeschichte, die von blindem Hass und von Unmenschlichkeit handelt, von Vertreibung und neuem Zuhause, aber auch – und das ist ihm wichtig – von Versöhnung. Michael Wolffsohn ist nun zu Gast auf RBB Kultur – herzlich willkommen!
Michael Wolffsohn: Ja, hallo nach Berlin!
Sie widmen das Buch Ihren Enkeln Anna, Noah, Talina, Eva und Jonathan. Wie alt sind sie?
Die Idee für das Buch gab mir mein damals siebenjähriger Enkel Noah, heute ist er acht, ebenso wie die Anna. Die eine Schwester, Talina, ist sieben. Die drei können jetzt schon lesen oder vorgelesen bekommen. Die anderen sind noch zu jung. Aber diejenigen, die das schon vorgelesen bekamen, haben es verstanden. Die Empfehlung des Verlages ist für Jugendliche und Kinder ab elf Jahren. Aber wie gesagt, meine Enkel mit acht und sieben haben es verstanden. Also ich nehme an und hoffe, dass es auch jüngere Kinder verstehen.
Noah (7) wollte mehr über Juden und Hitler wissen
Haben Ihre Enkel Ihnen Fragen gestellt, die sie versuchen, mit Ihrem Buch zu beantworten?
Das Interessante ist, dass meine Frau und ich als Großeltern uns diesbezüglich zurückgehalten haben, weil man bei der Kindererziehung gerade im Zusammenhang mit dem schrecklichsten aller schrecklichen Themen, nämlich dem sechsmillionenfachen Judenmord, nicht weiß, schlägt man die Kinder psychisch total nieder, oder regt man die Nachdenklichkeit, das Mitgefühl an. Das kann bei dem einen Kind in die eine Richtung gehen, bei dem anderen Kind in die andere. Aber da auch unsere Kinder und Schwiegerkinder alles andere als unpolitisch sind, und eben auch historisch (interessiert), ist sehr viel in den Familien über Jüdisches gesprochen worden, was auch damit zusammenhängt, dass wir, obwohl wir eine gemischt-religiöse Familie sind und nicht sehr kirchlich und auch nicht sehr synagogal, aber doch die christlich-jüdischen Feste feiern und die Enkelkinder Fragen stellten: Warum ist das so bei Juden, warum ist das anders bei Christen, und so weiter. Das heißt, dass eines Tages mein Enkel Noah mich fragte und mir sagte: Ich möchte gerne mehr über Juden und Hitler wissen. Das ist natürlich eine Chiffre. Wir haben lange nach Kinder- und Jugendbüchern gesucht, die für das Alter in Frage gekommen wären, fanden aber keine. Ich weiß, es gibt viele andere gute Jugendbücher zu dem Thema, aber von der Altersgruppierung her und vor allem auch dem Brückenschlag über 1945 hinaus – also das Ja zum Leben, trotz allem: Das habe ich nicht gefunden. Ich habe mich auch von kompetenten Buchhändlern beraten lassen. Und deswegen habe ich dann meinem Enkel Noah und den anderen gesagt: Ich schreib’s für Euch.
Im ersten Kapitel Ihres Buches geht es um Ihre Großeltern; Menschen, die in Deutschland gelebt haben wie andere auch, Patrioten zum Teil, ein Großvater hatte im ersten Weltkrieg mitgekämpft. Wie war denn das Leben Ihrer Großeltern in Berlin?
Ich hatte die Berliner Großeltern, die waren väterlicherseits. Die mütterlichen lebten in Bamberg und teilweise Nürnberg. Mein Großvater in Berlin war einer der europäischen Pioniere der Unterhaltungsbranche, vor allem des Kinos, aber auch von Varietés. In Berlin standen zwei Riesen-Varietés, die er mitbegründet hatte und deren Miteigentümer er war: Scala und Plaza. Dann hatte er das Kino Lichtburg am Gesundbrunnen gegründet und betrieben, eines der damals größten Kinos in Europa. Er war absolut integriert im Wirtschaftsbereich, auch in die nichtjüdische Gesellschaft, aber wie damals üblich: Privat gab es kaum Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden. Das war vor allem von der nichtjüdischen Seite nicht gewollt. In der Kino- und Unterhaltungswelt war dann doch eine größere Gemeinsamkeit. Was wahrscheinlich auch dazu führte, dass mein Großvater die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig erkannte und erst im letzten Augenblick, nämlich 1939, nach Palästina fliehen konnte – allerdings nach der Gestapo-Haft.
Wir waren Glückskinder, denn wir haben überlebt
Ihren Großeltern, das beschreiben Sie in dem Buch, ist die Flucht aus Deutschland gelungen, nachdem Karl Wolffsohn aus dem KZ entlassen worden ist. Es klingt so stringent, aber so stringent war das auch nicht. In Ihrem Buch klingt das so:
"Oma Gretel und Thea fuhren von Stadt zu Stadt: nach Frankfurt, München, Berlin und von einem Botschafter oder Konsul zum anderen. Wie Bettler flehten sie dort um die Erlaubnis, in deren Länder einreisen zu dürfen. Amerika, Großbritannien, Frankreich, Niederlande, Belgien, Dänemark, Schweden, Norwegen und und und. Vergeblich. In all diesen Ländern schimpften die Menschen auf Hitler und die Nazis, manche weinten vor Mitleid. Sie stöhnten und klagten: Ach, die armen Juden in Deutschland, dort werden sie von Hitler und den Nazis beraubt, geschlagen, sogar ermordet. Wie gemein! Ja, sehr gemein. Aber geholfen hat den verfolgten Juden damals niemand. Niemand wollte die Juden, die sie so bedauerten, in ihrem Land aufnehmen. Von überall bekamen Thea und Gretel Absagen. Dann die Rettung, an die kaum noch einer glaubte: Die Saalheimers erhielten ein Einreisevisum nach Britisch-Palästina."
Ein Ausschnitt aus dem Buch „Wir waren Glückskinder – trotz allem“ von Michael Wolffsohn. Es richtet sich an Kinder. Glückskinder, Herr Wolffsohn, weil sie dem Tod durch Mord, dem Holocaust entkommen waren?
Ja, eindeutig, und dieser Begriff stammt nicht von mir, ich habe ihn von meiner Mutter übernommen, die inzwischen 98 ist und ganz klar im Kopf, und vor einigen Jahren mir, ihr Leben bilanzierend, sagte: Wir waren trotz allem Glückskinder. Und damit meinte sie natürlich: Wir haben überlebt, im Gegensatz zu sechs Millionen Juden, die ermordet worden sind. Und das versuche ich auch in diesem Buch zu beschreiben: Es war eine finstere, finstere, finstere, finstere Zeit, aber trotzdem – Kinder sollen ja nicht niedergeschlagen werden – trotzdem gab es, vor allem in dem Kapitel, in dem ich die Zeit in Palästina beschreibe, Sonnenschein, nicht nur im meteorologischen und klimatischen Sinne, sondern auch im Gefühlsleben. Meine Eltern waren damals jung, verliebten sich und hatten ab 1942 mehr oder weniger, wie alle damals in Palästina und woanders, gewusst, was in den Vernichtungshöllen geschah. Aber der Alltag war eben Alltag! Die Sonne schien, man ging schwimmen, man war verliebt, man liebte sich… Ich versuche den Kindern und Jugendlichen zu zeigen: Das Leben kann ganz furchtbar sein – wobei ich auf die Darstellung der Details verzichtet habe, Gaskammern und so weiter – sondern es wird beschrieben: So war es. Das Ergebnis wird beschrieben. Man muss nicht in die Einzelheiten gehen, denke ich, aus psychologisch-pädagogischen Gründen, in diesem Alter – aber: nichts verheimlichen. Und dann eben, auf der anderen Seite, der Sonnenschein. Licht und Dunkel – das gehört zum Leben und das sollten Kinder und Jugendliche von Anfang an erlernen und erfahren.
Hitler war ganz schlimm, Adenauer ist gut
Sie sind 1947 in Tel Aviv geboren, damals noch Britisch-Palästina. 1954 ist Ihre Familie nach Deutschland zurückgekehrt, in das Land der Täter. Wie haben Sie denn die Rückkehr erlebt, die erste Zeit in Deutschland, als siebenjähriges Kind?
Das beschreibe ich auch, und ich versuche, meine damalige kindliche Sicht (...) zu schildern. Was mir auffiel, als ich siebenjährig nach Deutschland kam: Es waren zwar wahnsinnig viele Ruinen da, ich rede von West-Berlin, wo ich großgeworden bin. Aber im Vergleich zu dem Lebensstandard, den wir in Israel hatten, war das geradezu Gold! Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite gab es enorm viele Ruinen. Dann fragte ich natürlich meine Eltern und Großeltern: Warum die Ruinen? Und da hörte ich, siebenjährig, zum ersten Mal den Namen Adolf Hitler. Und ich sehe und höre mich noch mit meiner Großmutter Recha über die Halenseebrücke fahrend, da war von Hitler die Rede, und ich fragte: Was war denn das für einer? – "Ganz schlimm, ganz schlimm!" Und was war der, fragte ich meine Großmutter. Antwort: "Reichskanzler." Nächste Frage von mir: Wer ist heute Reichskanzler? Antwort: „Es gibt keinen Reichskanzler, nur einen Bundeskanzler.“ Ja, und wer ist Bundeskanzler? – „Konrad Adenauer.“ Und ich in der Sprache eines Siebenjährigen: Ist der gut oder schlecht? – "Der ist gut." Nun können mir manche unserer Hörer sagen: „Der war nicht gut.“ Aber im Vergleich zu Hitler sind wir uns doch hoffentlich alle einig, dass er sehr wohl ‚sehr gut‘ war und die bundesdeutsche Demokratie aufgebaut hat. Dann ein anderer Eindruck, und das versuche ich auch im Buch zu schildern: Es gab wahnsinnig viele Hunde. Und die Berliner waren – sind zum Teil immer noch – nicht besonders kinderlieb. Aber zu den Hunden waren sie wahnsinnig lieb. Wie das? Und dann die Frage: Diese Hunde liebenden Berliner, wir waren die denn damals zur Hitler-Zeit? Ich versuche das aus der Perspektive des Kindes nachzuerzählen, und ich hoffe, dass es mir gelungen ist. Bei meinen Enkeln ist es mir Gottseidank gelungen.
Doppelte Staatsbürgerschaft ist praktisch unsinnig
Sie sind 1983 freiwillig für drei Jahre zum israelischen Militär gegangen…
Nein, 1967. Macht aber nichts. Kein Problem.
Warum schreibe ich hier 1983? Genau, weil Sie 1983 den israelischen Pass zurückgegeben haben.
Genau.
Und Sie haben gesagt, Sie würden nicht zwei Staaten ein gleichberechtigter Bürger sein können. War das eigentlich auch eine Kritik am Zionismus von Ihnen?
Nein, das nicht. Das ist eine ganz pragmatische Sichtweise, und – wenn Sie wollen – auch ein Beitrag zur innenpolitischen Diskussion in Deutschland und inner-israelisch. Es gibt viele Israelis, die deutscher Herkunft sind und nach Artikel 116 Grundgesetz die deutsche Staatsbürgerschaft völlig zu Recht bekommen – sowohl legitim als auch legal. Aber meine Sichtweise ist ganz pragmatisch: Wenn ein Staat seinen Bürger schützen soll und muss – das ist die Aufgabe eines Staates – dann kann das eigentlich nur ein Staat machen, denn in der Notsituation, und die kann es geben, Stichwort Entführungen oder ähnliches, stellen Sie sich ganz praktisch vor, müsste also Berlin mit Jerusalem erst einmal darüber diskutieren: Ist Angela Merkel für den Wolffsohn zuständig, oder Bibi Netanyahu oder wie immer Regierungschefs heißen. Das ist theoretisch sehr leicht zu sagen: Ja, noch mehr Staatsbürgerschaften, je mehr, desto besser. Aber ganz praktisch gesehen ist das schlicht und ergreifend unsinnig.
Nicht verallgemeinert, sondern Beispiele erzählt
Mir ist bei der Lektüre Ihres Buches aufgefallen, dass Sie auch viele Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen herausstellen – Gemeinsamkeiten der Symbole und Feste… Einerseits wirken Sie damit ja auch Klischees entgegen und stärken das gegenseitige Verständnis. Aber, wenn es um Palästinenser geht, ist mir aufgefallen, dass es da eher ein bisschen einsilbig wird. Da schreiben Sie zum Beispiel: Die arabischen Palästinenser wollten Juden und Briten aus ihren Gebieten rausbombardieren und sie gar nicht da haben. Das liest sich leicht, das ist vereinfacht, aber warum stellen Sie das relativ kurz dar?
Weil das zwei Ebenen sind. Die Gemeinsamkeit der Religionen – Judentum, Christentum und Islam – schildere ich, weil es Gemeinsamkeiten sind, und mir geht es um den Brückenbau. Dann kann ich aber die politische Wirklichkeit – und das ist eine ganz andere Ebene – nicht überzuckern, denn es ist ein Faktum, dass während des arabischen Aufstandes 1936 bis 1939 in Palästina und danach die palästinensische Führung – und ich spreche ja immer von der Führung und nicht von ‚den Palästinensern‘ insgesamt, darauf lege ich immer großen Wert – die Leser dieses Buches werden feststellen, und Sie haben das auch festgestellt, ich sage nie: ‚die Juden‘, ‚die Deutschen‘, ‚die Palästinenser‘, ‚die Muslime‘, sondern gebe ganz konkrete Beispiele, seien es persönliche Beispiele, oder seien es politische Beispiele. Das ist das Eine. Das Andere: Die Erzählungen, die ich hier bringe, die haben sich genauso abgespielt. Wie gesagt: Während des arabischen Aufstandes; unbestreitbar ist die palästinensische Führung nach Berlin zu Adolf Hitler geflohen, wurde im November 1941 von Hitler empfangen. Der Großmufti von Jerusalem, der Asyl in Hitlers Berlin fand, hat auf dem Balkan Muslime mobilisiert und in die Waffen-SS gebracht, die sich am Holocaust beteiligten. Das sind unbestreitbare Fakten. Ich beschreibe aber zum Beispiel auch, dass mein Vater im April 1948 zu den Eroberern von Jaffa gehörte und dabei ein gehörig schlechtes Gewissen hatte. Nein, ich bilde mir ein, dass ich durchaus versuche, allen Seiten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und nicht den Heiligenschein über jüdische Akteure verbreite.
Zum Schluss liegt es an Dir!
Zum Schluss, was würden Sie denn Kindern, jungen und auch älteren Menschen heute raten: Wie gelingt ein Zusammenleben?
Der Schluss ist offen, und ich habe drei Schlussversionen, die letztlich an die Kinder und Jugendlichen appellieren. Die in dem Appell enden: Es liegt an Dir! Ich schildere drei unterschiedliche Situationen, die Juden hier und heute erleben: In der Gemeinsamkeit zwischen Juden und Nichtjuden, aber auch in der Polarisierung und in der – wohlgemerkt – erlebten Gewalt. Von Rechtsextremisten, aber auch erlebten Gewalt von Islamisten mit Beifall von deutschen Linksextremisten. Und das Buch endet mit der zunächst einmal gestellten Frage: Wie wird es weitergehen? Und die Antwort an die Kinder und Jugendlichen, die es selber lesen oder vorgelesen bekommen: Es liegt an Dir…
Mit dem Historiker und Autor Michael Wolffsohn habe ich über seine deutschjüdische Familiengeschichte gesprochen. An Kinder richtet sie sich. „Wir waren Glückskinder – trotz allem“, bei dtv erschienen. Vielen Dank, dass Sie unser Gast auf RBB Kultur waren.
Ich danke Ihnen herzlich und grüße Ihre Hörer.
Das Gespräch auf RBB Kultur vom 28. April 2021 zum Nachhören
(Die Zwischenüberschriften stammen von der Redaktion dieser Webseite.)