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Wiederauferstehung alter Gespenster? 75 Jahre "danach"

Nicht nur wir Juden, die Offene Gesellschaft ist von drei Hauptfeinden umgeben: Rechten, Linken, Islamisten. Wer die Offene Gesellschaft will, muss sie offensiv schützen.

Eröffnungsvortrag bei den Jüdischen Kulturwochen, Stuttgart 2020, 2. November 2020:

In welchem Jahr leben wir?

Meine Damen und Herren,

im Jahre 1348 oder anno domini 2020?

Warum ich frage? Nein, ich habe das Manuskript nicht verwechselt. Ich bin auch (noch) nicht so greisenhaft vertrottelt, dass ich nicht Erlebtes von Angelesenem unterscheiden könnte. Ich weiß ("sogar"), dass wir heute nicht im Mittelalter leben. Aber. Ja, aber: Was ich, wie Sie alle, erlebe, höre, sehe und höre, erinnert mich nicht selten an den Schwarzen Tod, also an die Pest-Pandemie, ja Pandemie und nicht "nur" Epidemie, der Jahre 1348 bis 1353. 25 Millionen Menschen starben damals, ungefähr ein Drittel der Weltbevölkerung. Und – "natürlich" waren "die Juden schuld". Sie hätten die Brunnen braver Christenmenschen vergiftet oder woanders Giftmischungen platziert. Klingt doch irgendwie bekannt und aktuell. Nicht wahr? Wider, im Sinne von gegen, also gegen alle Fakten wird heute WIEDER dieser Schwachsinn verbreitet und, schlimmer noch, vielfach geglaubt.

Vergeblich sachliche Aufklärung, Vorträge, Seminare zur politischen Bildung, kostspielige Toleranzprogramme, Wochen der Brüderlichkeit. Brüderlichkeit? Nebbich!

Vergeblich die Tatsache, dass Juden, besonders orthodoxe Juden - man denke an Brooklyn, New York, oder Mea Schearim und Bnei Brak in Israel - weit öfter coronainfiziert sind als Nichtjuden oder nichtreligiöse Juden. Allen deshalb kommen "die" Juden als böswillige Virenschleuder gegen andere Menschen nicht infrage. Vor wenigen Wochen erklomm Israel, gemessen an der Einwohnerzahl, den traurigen Platz 1 der weltweit an Corona Erkrankten. Egal, "die Juden sind schuld" und wären deshalb zu bestrafen. So denkt freilich nicht die Mehrheit, geschweige denn alle, aber doch zu viele.

Wie sind die Zu-Vielen umzuerziehen? Vergeblich, vergeblich, vieles, wenngleich nicht alles, vergeblich. Vergeblich auch die aufklärende Menschlichkeit eines Lessing. In seinem 1783 uraufgeführten "Nathan" – bis heute wohl eines der in Deutschland meistgespielten Stücke - persifliert Lessing den Antijudaismus des Jerusalemer Patriarchen. Auf jedes "die" und den Juden entlastende Argument erwidert jener geistlose christliche Geistliche stereotyp: "Tut nichts, der Jude wird verbrannt." Jener Patriarch lebt fort. Millionenfach, heute mehr bei geistlosen Nicht-Geistlichen. Aufklärung? Vergeblich.

Legende von den jüdischen Brunnenvergiftern - neu aufgetischt

Nicht zu glauben, aber wahr: Wie weiland 1348ff. wird antisemitischer Unsinn nicht nur verbreitet, sondern beklatscht. Nicht nur von Klein-Erna und Klein-Moritz. Am 6. Juli 2016 tischte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas vor dem Europäischen Parlament die uralte, mittelalterliche Legende von jüdischen Brunnenvergiftern auf. Akteure waren diesmal nicht Juden des Mittelalters, sondern zeitgenössische israelische Rabbiner. Diese hätten, eine Woche vor seiner Rede, von ihrer Regierung verlangt, das Wasser der Palästinenser im Westjordanland zu vergiften.  Am Ende der Abbas-Rede: Stehende Ovationen der demokratisch gewählten Europa-Parlamentarier für jenen antisemitischen Dreck, jawohl, Dreck. Fake-News. Nicht "Made in America" von Donald Trump, sondern vom Palästina-Präsidenten, geglaubt und applaudiert von Top-Europäern.  

Es kommt noch besser, sprich: schlimmer, eigentlich unglaublich – aber wahr. Ich zitiere nicht aus einer Postille der AfD, NPD, der Reichsbürger oder anderer Alt-Neu-Rechter, ich zitiere aus einer Reiserwarnung des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland für die "Palästinensischen Gebiete", abgerufen am 26. Oktober 2020: "Das Grundwasser" im Gaza-Streifen "gilt als belastet". Eine Begründung fürs belastete Grundwasser wird einleitend genannt: "Im Rahmen der israelischen Militäroperation 'Protective Edge' erfolgten schwere Angriffe auf Ziele im Gaza-Streifen mit vielen Toten und Verletzten. Dabei wurde auch öffentliche Infrastruktur, wie Straßen, Strom- und Abwasserversorgung, beschädigt." Die israelische Militäraktion Protective Edge erfolgte im Sommer 2014. Als Reaktion auf anhaltenden Raketenbeschuss auf Israel durch militante palästinensische Gruppen. Im Klartext besagt das Geschwurbel unseres Außenministeriums: "Die Juden sind schuld." Selbst wenn es, bezogen aufs Gaza-Grundwasser stimmte, hätte nicht zuletzt die Bundesregierung, allen voran das Auswärtige Amt, dafür sorgen können, die Qualität des Gaza-Grundwassers zu verbessern oder für Alternativen zu sorgen. Außerdem fließen nicht erst seit 2014 auch deutsche Millionenbeträge zur Hamas in den Gazastreifen. Statt das Grundwasser zu sanieren, zog es Hamas aber vor, Raketen zu produzieren, die fortwährend auf Israelis niederprasselten.

"Hamas, Hamas, Juden ins Gas!"

"Protective Edge", 69 Jahre danach, Juli 2014. Berlin, Kurfürstendamm. Al-Kuds-Tag. Palästinenser, befeuert von meist linken "Bio-Deutschen", demonstrieren und skandieren: "Schlachtet die Juden!" Oder "Brenn, Jude!". Oder "Jude, Jude, feiges Schwein …". Oder "Hamas, Hamas, Juden ins Gas, Juden ins Gas!"  Diese Beschimpfungen von Juden, jüdischen Deutschen, die sind keine Volksverhetzung, meint die Berliner Staatsanwaltschaft. Nein, nicht doch. 1348 oder 2014 oder 2020 oder gar nicht zu reden von 1933ff.

Nicht nur 75 Jahre "danach": Gewalt gegen Juden gehört schon lange zum neudeutschen Alltag. Gewalt in Wort und Tat. Nicht erst seit 2020 an der Synagoge von Hamburg, 2019 an der Synagoge Halle, dem Mobbing in Schulen, auf Straßen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Mord am jüdischen Verleger Shlomo Lewin 1980, dem Münchener Olympia-Massaker von palästinensischen Terroristen gegen Israelis 1972, dem Brandanschlag  aufs Jüdische Altersheim in München sowie dem Mord an El-Al-Passagieren auf dem Münchner Flughafen Riem 1970, oder dem Bombenanschlag des Linksterroristen Kunzelmann gegen Das Jüdische Gemeindehaus in West-Berlin.

Attacken auf Rabbiner und andere, als Juden erkennbare Menschen sowie viele weniger allgemein bekannte und längst von den meisten wieder vergessene Schandtaten sind seit Jahren und heute mehr denn je skandalöse Routine. Die Täter wechseln. 'Mal sind es die alten, wiederauferstandenen rechten Gespenster, 'mal linke, 'mal Islamisten, 'mal weltlich-arabische Terroristen. Alle quicklebendig. Nix da, Gespenster. Monster! Opfer sind und bleiben Juden, die Täter wechseln.

"Nie wieder Antisemitismus"?

Amtlicherseits folgen die immergleichen Reaktionen. Vom Bundespräsidenten bis zum Dorfvorsteher: "Kein Einzelfall", "Nie wieder lassen wir in Deutschland Antisemitismus zu", "Mehr Aufklärung über NS-Verbrechen ist nötig", "Bessere Demokratie-Erziehung" und so weiter und so weiter. Diese Bekundungen und Vorschläge sind sinnvoll, doch bestenfalls nur  Zusatzmaßnahmen. Sie garantieren keine Sicherheit im Sinne körperlicher Unversehrtheit.

Lippenbekenntnisse und Appelle ersetzen keine Diagnose und erst recht keine Therapie. Wer falsche Befunde erstellt, kann nicht erfolgreich heilen. Das jedoch geschieht allzu häufig. Die Gründe dafür liegen tiefer als die oberflächlichen Worthülsen der zurecht und durchaus aufrichtig Empörten vermuten lassen. Ihre Worte sind schnell vom Winde verweht, und neue Untaten folgen. Warum? Weil Empörung nicht reicht, um Pandemien wie den Antisemitismus zu heilen. Er ist erheblich älter als Corona 2020 oder der Schwarze Tod von 1348ff. Ins 14. vorchristliche Jahrhundert des Alten Ägyptens führen die Anfänge der Antisemitismus-Pandemie. Ich rede aber nicht über die Antike oder das Mittelalter, sondern von unserer Gegenwart. Gemäß dem Motto der diesjährigen Jüdischen Kulturwochen: "75 Jahre Befreiung, 75 Jahre Wiedergründung der Gemeinde" Stuttgart.

Befreiung? O ja, aus heutiger Sicht. Aus Sicht der Veranstalter, der heute Regierenden und meisten Opponierenden in Bund und Land. Freilich nicht allen Opponierenden. Befreiung war es stets aus Sicht von Juden.

Stichwort "Sprache". Die Schulweisheit besagt: Voraussetzung und entscheidendes Instrument erfolgreicher Integration sei das Beherrschen der Landessprache. Bei uns also Deutsch. Blicken wir zurück: Konnte Heinrich Heine kein Deutsch? Oder Kurt Tucholsky oderoderoder? Wurden sie erfolgreich integriert?

Wie fast alle in Deutschland lebenden Juden beherrscht Zentralratspräsident Dr. Josef Schuster, beherrsche sogar ich als deutscher Professor die deutsche Sprache in Wort und Schrift. Träfe die erwähnte Schulweisheit zu, müssten wir hier und heute nicht über Antisemitismus reden. Was lernen wir daraus? Dass so manche der geltenden Grundannahmen bezüglich Integration ganz allgemein und Antisemitismus im Besonderen leider falsch sind.

Kaum ein Jude fällt deutschen Sozialkassen zur Last

Ebenso falsch ist diese Schulweisheit: Wer sowohl Deutsch kann als auch den deutschen Sozialkassen nicht zur Last fällt, werde leicht integriert. Kaum ein Jude fiel oder fällt deutschen Sozialkassen zur Last. Doch immer noch müssen wir das Antisemitismus-Virus bekämpfen.

Ebenso falsch ist diese Schulweisheit: Minderheiten, die keine Bomben auf die Mehrheitsgesellschaft werfen, werden mühelos integriert. Haben Sie irgendwo gehört, dass Juden in Deutschland auf irgendwen Bomben werfen oder ein Sicherheitsrisiko wären?

Umgekehrt aber gilt: Juden leben unsicher. Immer noch oder schon wieder in Deutschland. Nicht nur in Deutschland, in Europa überhaupt, besonders im angeblich so aufgeklärten, liberalen und vorbildlich humanen, weltoffenen Westen Europas. Sicherheitspersonal - überall vor und in jüdischen Einrichtungen Westeuropas und Deutschlands. Nur Wenige hören es gerne, aber es stimmt: Im angeblich, ach, so erzreaktionären und antisemitischen Ungarn Victor Orbans steht kein Sicherheitspersonal. Es wird nicht gebraucht. Nicht einmal vor der Budapester Hauptsynagoge.

Frankreich haben in den letzten zwanzig Jahren rund 100.000 Juden verlassen. Die meisten gingen nach Israel. In Frankreich sind sie frei, aber nicht mehr sicher. In Israel sind sie frei und sicher. Sind wir Juden in Deutschland sicher? In Frankreich, Dänemark, Schweden oder auch Großbritannien, wo den Juden bis vor kurzem der linke Antisemit Jeremy Corbyn drohte?

Anders als 1945/1948ff - Israel ist heute ein attraktives Land, in dem man gut lebt. Israel bietet Juden heute nicht nur Lebenssicherheit, es bietet auch hohe Lebensqualität. Die Sonne scheint, der Sommer sicher, das Bildungswesen leistungsorientiert, die Infrastruktur vorzüglich, der islamische und islamistische Terror inzwischen mehr im Griff als in Europa, der Antisemitismus ein innerjüdisches Problem, und selbst Feinschmecker kommen auf ihre Kosten. Ich übertreibe absichtlich: Jahrzehntelang boten israelische Restaurants vor allem Huhn, Huhn, Huhn und nochmals Huhn an, so dass am Ende die Gäste gackerten. Tempi passati. Man isst nicht nur gut in Israel, man ist dort als Jude sicher. Anders als 1933ff haben wir Juden heute eine Lebensversicherung namens Israel. Wir Juden haben heute eine Alternative, eben diese. Auch Deutschlands nichtjüdische Mehrheit hat eine Alternative: Loyale, friedliche, fließend Deutsch sprechende, gut ausgebildete, erwerbstätige, Steuern zahlende, die deutsche Wirtschaft und Kultur bereichernde jüdische Bürger schützen oder verlieren. Wir Juden sind deutschland- und weltweit seit 1948, seitdem es Israel gibt, nicht mehr auf die Gnade der Nichtjuden angewiesen. Wir leben gerne und trotz bekannter Defizite gut in Bundesdeutschland, aber wir betteln nicht darum hier leben oder gar nur überleben zu dürfen.

Eltern und Großeltern fühlten sich 1945 befreit - wie alle Juden

Zurück zum Stichwort "Befreiung". Die Deutschen wurden 1945 befreit. Sie haben sich nicht selbst von ihren eigenen Verbrechern befreit. Meine aus Hitler-Deutschland 1939 nach Palästina geflohenen deutschjüdischen Eltern und Großeltern fühlten sich 1945, wie alle Juden, befreit. Aber die meisten Deutschen dürften sich 1945 nicht befreit gefühlt haben. Heute ist das anders. Der bundesdeutschen Demokratie sei Dank. Heute bewerten und bezeichnen die meisten Deutschen die Niederlage Hitler-Deutschlands als Befreiung.

Ihre Befreiung sowie die Früchte der Freiheit haben die Deutschen, ja, "die" Deutschen zuerst und vor allem "den" Amerikanern zu verdanken. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass viele (für mich zu viele) Deutsche "den" Amerikanern ihre Befreiung bis heute verübeln und vergessen. Trump ist nur eine Ausrede. Genau betrachtet wurden "die" Deutschen im 20. Jahrhundert zweimal von "den" Amerikanern befreit. Vom reaktionären Kaiser 1918 und vom Verbrecher Hitler 1945. Ohne Amerika keine deutsche Demokratie. Weder 1919 bis 1930/33 noch seit 1949 Alt-BRD und seit 1990 Neu-BRD. Heute, und zwar nicht erst seit Trump, gehört es zur politischen Mode Deutschlands, gegen Amerika zu wettern, den USA Demokratie-Nachhilfe zu erteilen und sich geradezu chutzpedick als moralische Weltmacht aufzuführen. Mehr deutsche Dankbarkeit, vor allem Bescheidenheit und deutlich weniger Antiamerikanismus wären angebracht.

Der neudeutsche Antiamerikanismus und der neudeutsche Antisemitismus plus Antiisraelismus sind eng in- und miteinander verflochten. Lange vor Trump und selbst unter dem hochsympathischen, doch leider glücklosen Obama, gilt zu vielen Deutschen Amerika als "Monster" Nummer eins und Israel als "Monster" Nummer zwei. Israel, das ein ahnungsloser, dem deutschen Zeitgeist nach- und mitlaufender ehemaliger deutscher Außenminister als "Apartheidstaat" verunglimpfte. Oft folgt diesem Apartheid-Unsinn der Nazi-Israel-Vergleich. Der bleibt bislang meistens (freilich auch nicht immer) außerhalb von Exekutive, Legislative und Judikative.

Judenfeindschaft der Linksextremisten und Islamisten nicht übersehen

Lassen Sie mich weitere Tatsachen 75 Jahre "danach" nennen.

Tatsache 1: Die einen nennen als Hauptgefahr für Juden Neonazis und andere Rechtsextremisten. Amtlicherseits werden hierfür scheinbar unwiderlegbare Zahlen vorgelegt. Über die Zahlen wird gestritten, nicht über diese Gefahr. Sie ist unbestreitbar. Statt darüber mit „dem“ Staat zu streiten, sollte man die alles andere als nur gewaltfreie Judenfeindschaft der Linksextremisten nicht übersehen. Vom antijüdischen Terror militanter Muslime ganz zu schweigen. Gespenster? Quicklebendig allesamt. Dass der linksextremistische Antisemitismus nicht altbekannt, sondern neu wäre, ist eine manchen liebe Legende, und Legenden sind bekanntlich keine Fakten. Alles andere als neu ist auch der islamische, nicht nur islamistische Antisemitismus. Nicht einmal in oder aus Deutschland ist er neu. Spätestens von 1939 bis 1945 arbeiteten Hitler-Deutschland, der Großmufti von Jerusalem Hadj Amin el-Husseini und der irakische Nationalist Gailani sowie auch Muslime aus dem Kaukasus zusammen. Einig in Wort und Tat waren sie sich gegen "die" Juden und, Hisseini, erst recht gegen die Zionisten. Gegen die mehrheitlich wahrlich nichtzionistischen Juden Serbiens machte Husseini Muslime in Bosnien-Herzegowina im Holocaust mobil.

Tatsache 2: Im Kampf gegen die nationaldeutsche Epidemie des rechten Antisemitismus greifen manche zu abwegiger Medizin. Sie wollen zum Beispiel die schwarz-weiß-rote Fahne des deutschen Kaiserreichs verbieten. Dabei wird unausgesprochen unterstellt, jene Hohenzollern-Monarchie wäre dem Verbrecherstaat der Nazis gleichzusetzen. Hohenzollern-Dämonologie ist derzeit modische Ideologie. Im Verband der deutschen Historiker und (natürlich) Historikerinnen ist auch dessen Spitze dagegen nicht immun. Absurd. Ähnlich absurd, sprich: ahnungslos, allerdings unter anderen politischen Vorzeichen, sind heutige Rechtsextremisten, wenn sie diese Fahne wo auch immer schwenken. Das kaiserliche Schwarz-Weiß-Rot führten die Nazis 1933 wieder ein und ersetzten sie ab 1935 ganz, denn "Führer" und Hakenkreuz sollten alle und alles überstrahlen. Ähnliches gilt für die Reichskriegsflagge, die Rechtsextremisten heute wie ein mit und vor sich hertragen. Es war die Kriegsflagge des schwarz-weiß-roten Kaiserreichs. Die Reichskriegsflagge der Nazis sah anders aus. Mit Hakenkreuz natürlich. Wer Schwarz-Weiß-Rot verbieten möchte, müsste den Bundestag aus dem Reichstag verbannen. Dieser wurde von 1884 bis 1894 während des schwarz-weiß-roten Kaiserreichs erbaut. Man müsste dann auch das schwarz-weiße Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft verbieten. Seit ihrem ersten Länderspiel im Jahre 1908 tragen die deutschen Kicker Schwarz-Weiß. Schwarz und Weiß waren die Farben Preußens. Preußens König war Deutscher Kaiser, und Preußen ist heute vielen noch unheimlicher und abstoßender als das Kaiserreich. Also abschaffen? Absurd, Aber mit solchen Absurditäten versuchen manche, Antisemitismus und Rechtsextremismus zu bekämpfen. Für die Sicherheit der Juden ist nichts gewonnen, und der notwendige Kampf gegen Rechtsextremisten verkommt zur Farce. Krönung der Lächerlichkeit wäre der Wunsch, die deutsche Sprache abzuschaffen. Selbst dafür gäbe es eine scheinrationale Begründung: Hitler und seine Mitmörder sprachen deutsch.

Gewalt ist Gewalt - egal von welcher Extremistengruppe

Tatsache 3:  Von allen drei Extremistengruppen – Rechte, Linke, islamische Fanatiker - drohen Juden Gefahr für Leib und Leben. Ich wiederhole absichtlich: Die Täter wechseln, nicht die Opfer.

Tatsache 4: Den jüdischen Opfern ist es egal, ob die Gewalt von Rechten, Linken oder Islamisten aus dem In- oder Ausland droht. Gewalt ist Gewalt, ist Straftat und muss als Straftat geahndet werden. Wenn der oder die Täter ausländischer Herkunft sind oder einer nichtchristlichen Religion angehören, gehört die Tat als Tat bestraft.

Tatsache 5: Zu den Standardreaktionen gehört dieser Satz: "Judenfeindschaft geht, nicht nur in Deutschland, bis weit in die Mitte der Gesellschaft." Das stimmt. Gemeint ist damit in der öffentlichen Diskussion vor allem der bürgerlich-konservative, rechtsliberale, allgemein rechte (nicht rechtsextremistische) Teil der Gesellschaft. Festzuhalten bleibt aber: Bürgerliche, im Sinne von Bourgeois und Citoyen, werfen selten, wenn überhaupt, Bomben. Das gilt für rechtsliberal-konserative ebenso wie für linksliberale Bürgerliche. Weder die rechts- noch linksliberalen Bürgerlichen greifen selbst zur Gewalt. Ihre Klügeleien rechtfertigen sie aber unausgesprochen.

Tatsache 6. Was oft und von manchen gerne verschwiegen wird: Judenfeindschaft geht national und international auch bis weit in die linksliberalen Teile der Gesellschaft. Ein Beweis von vielen sind die Auseinandersetzungen um die Aktivitäten der scheinbar "nur" gegen Israel, tatsächlich aber, wie vom Bundestag 2019 bestätigt, gegen "die" Juden gerichtete BDS-Kampagne. Diese verlangt einen Boykott von, Desinvestitionen (Ende und Abbau der Investitionen) in sowie Sanktionen (Strafmaßnahmen) gegen Israel. "Die" Juden werden dabei als verlängerter Arm Israels dargestellt. Zu den Verteidigern dieser Entgleisungen gehören meistens sogenannte Intellektuelle linksliberaler Färbung. Sie selbst sind keine Antisemiten, wohl aber deren nützliche Idioten. Erst recht, wenn sie, wie mehrfach geschehen, Felix Klein, den Bundesbeauftragten gegen Antisemitismus, attackieren. Im Gegensatz zu den Schönrednern vom Dienst, lässt er nämlich seinen Worten Taten folgen. Seine Kritiker wollen offenbar nur folgenlose Empörung als Symbolpolitik. Das schien im Herbst 2020 auch der Stadtstaat Hamburg anzustreben. Statt bezahlter, und von den Jüdischen Gemeinden vorgeschlagener, Expertise im Kampf gegen Antisemitismus sucht man dort eine ehrenamtlich tätige Person. Bei aller Ehre, Ehrenamtliche können Vollzeittätige nicht wirklich ersetzen.

Symbol- bzw. Papierpolitik auch im Bundestag. Der verabschiedete mit den Stimmen aus Koalition und Opposition (gegen Minderheiten auf beiden Seiten) am 17. Mai 2019 eine Resolution, die BDS als "antisemitisch" bezeichnete. BDS und Partner sollten fortan keine deutschen Gelder mehr bekommen. Kraftvolle Worte. Entkräftet wurden sie unverzüglich von Abweichlern. Regie führte Norbert Röttgen (CDU). Es gelang ihm und seinen Kollegen, die Anti-BDS-Mauer niederzureißen. Deutsches Geld fließt weiter Richtung BDS. Liebesgrüße aus Berlin.

Aufreizende Doppelmoral bei Linksliberalen

Im Kampf gegen Rechts begegnet man auch bei Linksliberalen zuweilen einer aufreizenden Doppelmoral. Nennen wir sie ruhig Heuchelei. Ich werde konkret und schaue auf die aktuelle Doppelmoral des S. Fischer Verlags gegenüber der Schriftstellerin Monika Maron. Er gehört zur Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck. Vorsitzender ihrer Geschäftsführung ist Stefan von Holtzbrinck, der jüngere Sohn des Firmengründers. Dieter von Holtzbrinck ist der ältere Sohn. Beide Zweige vergeben gemeinsam den Georg-von-Holtzbrinck-Preis. Den einen für Wissenschafts-, den anderen für Wirtschaftsjournalismus. Sitz beider Holtzbrinck-Unternehmen ist das schöne Stuttgart.

Monika Maron erhielt neben zahlreichen anderen namhaften Preisen 2009 den Deutschen Nationalpreis. Jetzt wurde sie vom S. Fischer Verlag mit einem „Wumm“ vor die Türe gesetzt. In einem Rundbrief an die Autoren erklärt die Verlagsleitung: Der S. Fischer Verlag wolle "nicht indirekt einen publizistischen Kontext unterstützen, der der Tradition, der Geschichte und den Werten des Verlages widerspricht". Maron wird dabei ausdrücklich Nähe zur AfD, ja sogar zu deren "Flügel" unterstellt. Wenn dies zuträfe, würde ich als deutschjüdischer Historiker, Sohn und Enkel von Holocaust-Überlebenden, nie und nimmer Monika Maron verteidigen. Ich verteidige sie aber, weil ich seit 1999 ihre (bei S. Fischer erschienene) Familiengeschichte "Pawels Briefe" sowie sie selbst seit zwanzig Jahren kenne und schätze. In "Pawels Briefe" setzte sie ihrem jüdischen Großvater ein literarisches Denkmal. Eine bewegende Lektüre, voller Empathie für diesen Juden und "die" Juden schlechthin. In der öffentlichen Debatte um ihren rüden Rauswurf hätte sie mühelos Ihren "Jüdischen Schutzschild" benutzen können. Sie wäre sofort aus der "Schusslinie" gekommen. Sie zeigte Noblesse und tat es nicht. Gerade deshalb lohnt ein kurzer Blick auf die Geschichte des S. Fischer Verlags sowie vor allem auf die von der heutigen Verlagsführung erwähnten (doch nicht spezifizierten) Werte und Tradition. Auch auf der Website der GvH-Gruppe beruft man sich auf jene Werte.

Monika Maron, der Verlag S. Fischer und Holtzbrinck

Gegründet wurde er 1886 von Samuel Fischer. Noch heute zählt er zu den Giganten der deutschen Literaturgeschichte. Der "jüdische Verlag" wurde ab 1936 "arisiert", nach 1945 erfolgte die Rückgabe an Fischers Tochter und Schwiegersohn. Beide zogen sich ab 1963 zurück. Die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck übernahm das Unternehmen allmählich.

Wer war Georg von Holtzbrinck, dessen Namen die Verlagsgruppe bis heute trägt und die gemeinsam mit den Dieter-von-Holtzbrinck-Medien (DvH) den renommierten Georg-von-Holtzbrinck-Preis vergibt?  Auf der Website der GvH-Gruppe lesen wir: "Der Unternehmensgründer Georg von Holtzbrinck (*1909 – †1983) hatte in den 1930er Jahren mit dem Abonnementvertrieb von Büchern und Zeitschriften begonnen." Noch Anfang 2020 war auch das zu lesen: "Wir wahren und entwickeln zugleich das große Erbe unserer traditionsreichen Häuser fort… Wir fühlen uns unserer Herkunft und unseren tradierten Werten zutiefst verpflichtet…" Die wenigen, spröden Fakten seien ergänzt:

Georg von Holtzbrinck begann seine unternehmerische Laufbahn 1931. Im selben Jahr trat er dem NS-Studentenbund bei, obwohl dieser damals noch verboten war. An seiner Kölner Universität war jene NS-Organisation 1931 "unterdurchschnittlich vertreten", schreibt sein Biograf, Thomas Garke-Rothbart ("für unseren Betrieb lebensnotwendig…" Georg von Holtzbrinck als Verlagsunternehmer im Dritten Reich, München 2008).  Karrieredruck spielte daher dort (noch) keine Rolle. Daraus folgt: Der Verleger Georg von Holtzbrinck war also eher ein NS-Vorläufer als NS-Mitläufer. Ordentliches NSDAP-Mitglied wurde er am 1. Mai 1933. Er blieb es bis 1945. Für Georg von Holtzbrinck war das Ende der NS-Diktatur geschäftlich eher bitter, denn er hatte vom NS-Regime gewaltig profitiert. Die Deutsche Arbeitsfront sowie die Wehrmacht waren Großabnehmer seiner Druckerzeugnisse. Wirtschaftlich wertvoll waren also die NS-Werte für Georg von Holtzbrinck. Sie legten den Grundstein für den rasanten verlegerisch-qualitativen und quantitativ-finanziellen Aufstieg des Unternehmens.

Georg von Holtzbrincks Biografie ist zweigeteilt. Bis 1945 war er durchgehend NS-Profiteur. Nach 1945 sind seine und seiner Unternehmen Verdienste um die bundesdeutsche Demokratie unbestreitbar. Überstrahlt seine zweite Biografie die erste so sehr, dass man Georg von Holtzbrinck als bundesdeutsches Vorbild betrachtet? Kann, soll, darf eine solche Persönlichkeit Namensgeber renommierter Preise, gar liberaler Medienhäuser, sein?  Ist das die Tradition, sind das die Werte, auf die sich der S. Fischer Verlag gegenüber Monika Maron beruft, der Enkelin von Pawel Iglarz, der wahrscheinlich im August 1942 im Vernichtungslager Kulmhof ermordet wurde?

Erwähnen sollte ich im linksliberalen Zusammenhang auch den Henry-Nannen-Preis für Journalisten. Benannt ist er nach dem langjährigen "Stern"-Chef. Vor diesen langen bundesdeutschen Jahren diente er in den geplanten tausend NS-Jahren willig und fleißig als Propagandist, im Weltkrieg sogar in einer SS-Propagandakompanie. Bis 1979 hatte er das vertuscht. Weder links noch liberal. Soll ich an andere Moral-Ikonen unserer neudeutschen Republik erinnern? Günter Grass, der zuletzt offen und heftig den Jüdische Staat schamlos und kontrafaktisch attackierte? Oder soll ich….? Nein, genug, Sie haben mich verstanden.

Amtsträger wollen Juden schützen, doch Wollen bedeutet nicht Können

Tatsache 7:  Unsere Amtsträger in Staat, Justiz und Gesellschaft wollen die Juden wirklich schützen. Oder wird das nur heuchlerisch nach außen verkündet? Der Innenminister von Sachsen-Anhalt  wurde dieser Tage aus einem internen Treffen so zitiert, dass die Juden wegen der der für sie verschärften Schutzmaßnahmen schuld wären, wenn sich die Polizei nicht mehr angemessen um die Belange der übrigen Bevölkerung kümmern könne. Flugs korrigierte er diese entweder ehrliche oder falsch zitierte Äußerung. Doch auch aufrichtiges Wollen bedeutet nicht Können. Das in Deutschland meist fehlende Können hat tiefsitzende Ursachen.

Eine davon erklärt Tatsache 8. Sie beschreibt zugleich das zutiefst menschliche und sympathische, ja, liebenswerte der Bundesrepublik Deutschland. Frühere Deutschländer waren machtversessen, Bundesdeutschland ist machtvergessen. Selbst demokratisch eingesetzte und kontrollierte Gewalt sowohl nach innen (Polizei) als auch nach außen (Militär) ist bei uns eigentlich tabu. Das ist hochsympathisch, aber leider unrealistisch. Es führte in unserer so sympathisch antiheldischen Gesellschaft – neben der Vernachlässigung der Bundeswehr – auch zur Vernachlässigung und teils sogar zur Verächtlichmachung der Polizei. Nicht nur von denen, die Polizisten als "Schweine" oder "Bullen" verunglimpfen, sondern auch von manchen (Politikern), die von eben dieser Polizei tagtäglich vor Extremisten jeglicher Ideologie geschützt werden.

Tatsache 9: Aus an sich sympathischem Freiheitssinn verzichtet unsere Justiz auf die gebotene Anwendung der durchaus vorhandenen Gesetze zur Gewalteindämmung. Dadurch ermöglicht die Justiz Extremisten ganz allgemein (und nicht nur bezogen auf Juden) Freiräume zur Gewaltanwendung.

Tatsache 10: So wenig es "die" Deutschen gibt, so wenig gibt es "die" Polizei. Ihr Personal ist, wie in jeder Großorganisation, vielschichtig. Gewiss die meisten sind anständige Bürger "wie du und ich", die Recht und Gesetz der bundesdeutschen Demokratie sichern wollen. Daneben gibt es, wie wir wissen, auch Rechtsextremisten in der Polizei. In der Polizei heißt nicht "die" Polizei.

Wertschätzung für die Polizei, nicht Nackenschläge

Tatsache 11: Ohne Gesinnungschnüffelei muss, ja, muss die Polizei Methoden entwickeln, die Extremisten jeder Couleur einerseits nicht 'reinlassen und andererseits 'rausschmeißen. Unverzichtbar sind Achtung, Wertschätzung und Dankbarkeit gegenüber der Polizei. Je weniger Wertschätzung und je mehr Nackenschläge die Polizei bekommt, desto weniger  Bürger "wie du und ich" werden Polizisten. Ohne Motivierung kann niemand gut arbeiten. Vor allem in Bayern bekommt die Polizei diese Motivierung. Nicht zuletzt deshalb zählt München zu den weltweit sichersten Städten.

Wer, wie die deutschen Organe der Sicherheit nach innen und außen, so wenig ideelle und materielle Wertschätzung erfährt, kann nicht gut arbeiten. Auch die Defizite der Nicht-Antisemiten bedingen die krassen operativen Defizite im Kampf gegen Judenfeinde. Ja, sie ermutigen die Judenfeinde. Angesichts des zunehmenden Antisemitismus sind Empörung und Erziehung gut, richtig und wichtig. Für Sicherheit reichen sie nicht.

Die alten, rechten, linken und islamistischen Gespenster sind keine Zombies, denn sie sind alles andere als willenlos oder ihrer alten Seele beraubt. Sie sind durchaus wiederauferstanden. 75 Jahre "danach" sind sie für uns Juden die drei Hauptgefährder und auch -Täter. Wie die meisten Täter haben sie Hehler und nützliche Idioten, die ihnen helfen. 75 Jahre "danach" haben die meisten Deutschen die Werte der Offenen Gesellschaft verinnerlicht. Nicht nur wir Juden, die Offene Gesellschaft ist von drei Hauptfeinden umgeben: Rechten, Linken, Islamisten. Alle drei verfügen über teils freiwillig, teils unfreiwillig nützliche Idioten. Die Werte der Offenen Gesellschaft sind oft in der Defensive. So auch jetzt. Wer die Offene Gesellschaft will, muss sie offensiv schützen. Das ist 75 Jahre "danach" unsere gemeinsame Aufgabe, die Aufgabe von Juden und Nichtjuden. Es lebe die Offene Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.

(Die Zwischenüberschriften stammen von der Redaktion.)

Zum Mitschnitt der Rede geht es hier und hier (zirka ab Minute 32:30)