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Wolffsohn entzieht sich jeder Vereinnahmung konsequent und dickköpfig. Er mag das nicht, das »diplomatische Ver- und Übermitteln oder das verdeckende Überzuckern«, er ist weder Befehlsempfänger noch Diplomat sondern Professor geworden, weil das von "profiteri" komme - von "Bekennen".

Cora Stephan in der "Welt"

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Bassam Tibi: Vordenker des Euro-Islam

Der Politologe und Islam-Experte Bassam Tibi lehnt den Islam nicht ab, er will ihn reformieren. Er sieht, kennt, denkt – will ändern.

"Was und wie er ändern möchte, entwickelt er argumentativ, nicht agitatorisch", sagte Michael Wolffsohn am 21. November 2019 in Frankfurt am Main in seiner Laudatio auf den Empfänger des diesjährigen "Vordenker-Preises", Bassam Tibi. Der Preis wird vom Finanzberatungsunternehmen Plansecur vergeben, das sich bewusst an christlichen Werten orientiert.

Die Laudatio im Wortlaut:


Michael Wolffsohn

Bassam Tibi, Laudatio, Frankfurt am Main, 21. November 2019

VORDENKER-PREIS

Mit dem Vordenken ist das so eine Sache. Denn  – so spricht der große Meister aus, jawohl (genius loci), Frankfurt am Main und (sorry) auch Weimar in seinen "Maximen und Reflexionen" (ursprünglich in "Wilhelm Meisters Wanderjahren"): "Alles Kluge ist schon gedacht worden." Es komme nur darauf an, es noch einmal zu denken. Tja, genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Wer und wie viele denken denn wirklich? Denken nach oder denken vor.

Man könnte einwenden: Auch unser Vordenker-Preisträger Bassam Tibi wäre (wäre, also Konjunktiv des Irrealen!), man könnte also einwenden: Auch Bassam Tibi wäre kein Vordenker, sondern eher ein Nach-Denker, also jemand, der die schon zuvor von anderen vorgetragenen, klugen Gedanken noch einmal dachte, also nach-dachte. Das wäre auch nicht übel, denn: Wie viele Menschen denken nach, vom Vordenken ganz zu schweigen.

Warum also wäre Bassam Tibi "nur" ein Nachdenker? Weil es scheinbar den von Bassam Tibi geforderten und erhofften Euro-Islam schon einmal gab, nämlich in al-Andalus, auf der Iberischen Halbinsel, von 711 bis 1492.

Im Euro-Islam Bassam Tibis sind alle Bürger gleichberechtigt

Das ist eine schöne Legende. Fake, statt Fakt. Leider eben unwahr, denn auch im scheinbar Goldenen, muslimisch dominierten und kultivierten, iberisch-europäischen Zeitalter war jener Islam alles andere als der von unserem wirklichen Vordenker, also von Bassam Tibi, geforderten und erhofften Euro-Islam. Im vorgedachten Euro-Islam Bassam Tibis sind alle Bürger gleichberechtigt. Im al-Andalus-Islam waren Muslime Bürger erster Klasse und die übrigen, also vornehmlich Christen und auch Juden, Bürger zweiter Klasse. Fast immer geschützt, doch eben nur "fast", geduldet, wenn nützlich auch gefördert, und bestenfalls (freilich eben nicht immer) nicht verfolgt oder gar vernichtet.

Bassam Tibis Euro-Islam ist zugleich Teil eines größeren Ganzen: der Europäischen Leitkultur. Diese Europäische Leitkultur überwölbt sozusagen den Euro-Islam. In dieser Europäischen Leitkultur wären die vielzitierten "westlichen Werte", die 1776 zeitlos in der US-Unabhängigkeitserklärung verkündet wurden, gesichert. Also: „Life, Liberty and the Pursuit of Happiness“. Diese drei schließen auch diese Eine aus Artikel 1 Grundgesetz ein: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

Warnung vor der Zuwanderung nicht integrationswilliger Muslime

Meine These: Als Vordenker ist Bassam Tibi wahrlich kein Träumer oder nur Idealist. Er ist mindestens ebenso Realist. Mein Beweis: Schon vor der großen Flüchtlingswelle hatte Bassam Tibi gewarnt: Nicht generell vor "den" Muslimen, aber vor der Zuwanderung "nicht integrationswilliger Muslime". Lag er falsch? Leider nein.

Das war nicht nur Vordenken, das war Mut, also Aufklärung, verstanden als angewandter Immanuel Kant. Bassam Tibi hatte den Mut, "sich seines eigenen Verstandes zu bedienen", und er hatte den Mut, sich scheinbar (also nicht wirklich) gegen "seine eigene Herkunftsgruppe" zu stellen. Tibi denkt nicht in politisch korrekten, also dummen, Kollektivschablonen. Er denkt. Er denkt vor, und er denkt nach.

*

Ein "Egomane" wäre dieser Bassam Tibi, verbreiten manche markig, giftig auf universitären, politischen und publizistischen Marktplätzen. Auf den ersten Blick scheint es: Sie hätten Recht. Ich sage sie „hätten“ Recht, ich sage nicht sie haben Recht. Man beachte den Konjunktiv, den coniunctivus irrealis. Vorsicht! Welcher Professor, Politiker oder Publizist will, selbst "im Glashaus sitzend, mit Steinen werfen"? "Wer wirft den ersten Stein?" Wer nichts zu sagen hat, spricht nicht und schreibt nicht. Deshalb sprechen und schreiben Professoren viel. Nur Professoren? Keine Sorge, auch Professorinnen.

Wer forscht, erforscht auch sich selbst, auch wenn er über sein Forschungsgebiet schon mehr als Andere weiß. Deshalb forschen Chinesen häufiger über China als Nicht-Chinesen, Juden öfter als Nicht-Juden über Juden, Deutsche über Deutsche, Muslime – wie Bassam Tibi - über die Islamische Welt. Verwerflich? Aufdringlich?

Bassam Tibi stellt sich offen möglicher Kritik. Er weicht nicht aus. "Hier bin ich", ich kann auch anders.

Opposition zum syrischen Regime

Geprägt wurde Bassam Tibi von der Frankfurter Schule. Wer nicht weiß, vermutet: Horkheimer, Adorno, Habermas, auch Mitscherlich und Iring Fetscher. Gut gedacht, Leser, denn bei ihnen hatte er Sozialwissenschaften und Philosophie studiert. Das veränderte sein Denken und Leben. Nach seinem Studium konnte er wegen seiner Opposition zum syrischen Regime nicht mehr in seine Heimat Damaskus zurückkehren.

Bis Tibi achtzehn war, bis zu seinem Abitur, wuchs Tibi in Damaskus als sunnitischer Muslim und syrischer Araber auf. Als Angehöriger – meine Formulierung – des syrischen Adels, der "Banu al-Tibi". Seinen Orient der Kinder- und Jugendjahre sieht Tibi nun als Erwachsener aus der Perspektive des Okzidents. Beide Welten kennt er. Sein Blickfeld, Bewusstsein und schließlich Sein hat sich erweitert und somit geändert. Frei nach Goethe im West-Östlichen Diwan:

Nicht nur Gottes, sondern auch
Tibis ist der Orient,
Tibis ist der Okzident.

Auch ohne nach göttlichen Goethe’schen Sternen zu greifen: Welcher europäische Wissenschaftler kann von sich behaupten, durch sein Leben, Lernen und Denken in der Welt des Morgen- und Abendlandes beheimatet zu sein?

Reformerische Islam-Deutung

Seine "reformerische Islam-Deutung" kennzeichnet "den Tibi". Er lehnt den Islam nicht ab, er will ihn reformieren. Er sieht, kennt, denkt – will ändern. Was und wie er ändern möchte, entwickelt er argumentativ, nicht agitatorisch. Und er will den Islam europäisieren, das Partikulare also universalisieren, nicht liquidieren.

Achtzehn Gastprofessuren, unzählige Vorlesungen und Vorträge an Top-Universitäten.

Ich höre: "Klappern gehört zum Handwerk". Ich frage zurück: Wird jeder klappernde Handwerker oder Professor an die besten der besten Universitäten gerufen und geladen? Auf Kollegenneid ist Verlass. Tibi veröffentlicht in drei Sprachen: Deutsch natürlich, englisch und arabisch. Wie viele Fachkollegen können Vergleichbares bieten oder ihn überbieten?

Neid ist alltäglich, nicht menschlich, doch sehr menschelnd und hart erarbeitet. Das hat nicht nur Bassam Tibi erfahren müssen.

Bassam Tibi hält uns den Spiegel vor

Bassam Tibi ist integriert, große Teile seiner deutschen Umwelt haben Außerdeutsches weder in ihr Denken noch gar in ihr Sein integriert. Bassam Tibi hat es auf den Punkt gebracht: "Im Deutschen unterscheidet man zwischen 'Sache' und 'Person'. Die Adjektive hiervon sind 'sachlich' und 'persönlich'; beide schließen einander im Deutschen aus. Wenn es um die 'Sache' geht, bleibt kein Raum für den Menschen als eine Person, und das, was als nur 'persönlich' dargestellt, ja in vielen Fällen verleumdet wird, steht im Widerspruch zum 'Sachlichen'.

Bassam Tibi hält uns den Spiegel vor. An ihm können wir messen, wie vermessen die Selbsteinschätzung auch gerade derjenigen ist, die sich für die Vorhut neudeutscher Aufklärung und Toleranz halten. Könnte es sein – ich frage im Konjunktiv – könnte es ein, dass diese vermeintliche intellektuell-ethische Avantgarde Deutschlands Toleranz und Integration lieber paternalistisch gewährt als partnerschaftlich praktiziert, Toleranz von oben nach unten, statt von gleich zu gleich?

Dass ein zweifellos hochkultivierter, der deutschen Sprache wie ein bestgebildeter Deutscher mächtiger, integrationswilliger und ins deutsche Wissenschaftssystem integrierter deutsch-muslimischer Staatsbürger syrischer Herkunft sich nicht wirklich von der Mehrheitsgesellschaft angenommen fühlt, sollte selbstkritisches Nachdenken bei "deutsch Deutschen" ganz Allgemein und bei deutsch-deutschen Akademikern im Besonderen auslösen.

Bassam Tibi personifiziert das Paradigma des mustergültig akkulturierten und doch nicht assimilierten deutschen Staatsbürgers ausländischer Herkunft. Er ist und kann deutsch bestens und hat dennoch manche Herkunftseigenheiten ebenso wenig aufgegeben wie sich selbst. Er hat sein erstes, ausländisches Ich um das zweite, inländisch-deutsche erweitert. Er ist durch diese Akkulturation gewachsen, nicht geschrumpft. Er sieht mit vier Augen, nicht mit zwei; er hört mit vier Ohren und fühlt mit zwei Seelen. "Zwei Herzen wohnen, ach," in seiner Brust.

Willen zur Integration ohne Selbstaufgabe

Tibis Liebe zu Deutschland, seine Integrationsfähigkeit und -willigkeit, seine beispielhafte Akkulturation ohne (!) Selbstaufgabe, wurde von vielen Deutschen brüsk und rüde, offen oder verdeckt, zurückgewiesen. Um so schöne, um so wichtiger ist dieser Vordenker-Preis. Für ihn, für Sie, meine Damen Herren, für, jawohl, „die“ Deutschen.

Die Laudatio als PDF

Zum Bericht des christlichen Medienmagazins pro geht es hier